"Hundertjähriges Chaos"
INTERVIEW
(DIE ZEIT vom 23. Januar 2003)
"Hundertjähriges Chaos"
Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) über das deutsche Nein zum
Irak-Krieg
Die Fragen stellte Matthias Geis
die zeit: Frau Vollmer, die rot-grüne Bundesregierung hat ihre
Ablehnung eines Irak-Kriegesimmer wieder erklärt. Muss sie, für den
Fall, dass es zu einer zweiten Entscheidung imUN-Sicherheitsrat
kommt, gegen den Krieg stimmen?
Antje Vollmer: Es ist immer wieder kritisch gegen uns eingewandt
worden, wir hätten die Antikriegshaltung zur wahlentscheidenden
Frage gemacht. Wenn das so ist, dann war dieBundestagswahl
faktisch ein Plebiszit gegen die Kriegsbeteiligung. Ich bin sicher, dass
ähnliche "Plebiszite" in Europa oder sogar weltweit gleiche Klarheiten
brächten. Die Völker sind gegen diesen Krieg. Wir haben uns
entschieden, dass wir den Spagat zwischen einem innenpolitischen
Nein zum Krieg und einem internationalen Ja im Sicherheitsrat nicht
aushalten würden und der Sache nach auch nicht aushalten wollen.
zeit: Die Stimmung hierzulande ist zwar kritisch gegenüber einem
Krieg. Doch auch die Sorge, die Bundesrepublik könne sich
international isolieren, ist weit verbreitet.
Vollmer: Als einziges westliches Land zu erklären, dass wir uns nicht
daran beteiligen, setzt uns natürlich unter extremsten Druck. Aber
entgegen der skeptischen Mediendebatte hier im Lande scheint mir
doch international der Respekt vor der Haltung der deutschen
Regierung und des Kanzlers zu wachsen. Je länger die Debatte läuft,
je weniger die Funde der Inspektoren als Kriegsbegründung taugen, je
deutlicher die USA auf den Krieg hindrängen, ohne dass ein Konzept
zu erkennen ist für die Zeit danach, umso mehr Stimmen sagen: Gut,
dass einer der Freunde aus dem Bündnis die kriegskritische Position
formuliert. Würde der Bundeskanzler heute seine Position wechseln,
würde er Respekt verspielen - beim amerikanischen Präsidenten wohl
zuerst.
zeit: Wenn die Regierung konsequent bleibt, steht sie unter dem
Verdacht des Isolationismus, wenn sie laviert, gilt sie schnell als
opportunistisch. Keine einfache Lage.
Vollmer: Manchmal habe ich den Eindruck, was die Amerikaner an
Patriotismus zu viel haben, haben wir zu wenig. In den USA stellt sich
die Opposition beunruhigend kritiklos hinter den Präsidenten,
hierzulande löst die klare Ankündigung, dass wir uns nicht beteiligen
werden, nur die Frage aus: Wann werdet ihr umfallen? Aber auch die
Union wird den Spagat nicht aushalten zwischen einem Ja im
Sicherheitsrat und einem innenpolitischen Nein zum Krieg. Da muss
sie schon die Frage beantworten, ob und wann deutsche Soldaten in
Bagdad einmarschieren sollen.
zeit: Die USA sehen in der deutschen Haltung zum Irak-Krieg eine
klare Abkehr von der Solidarität im Kampf gegen den Terrorismus.
Vollmer: Die Bundesrepublik leistet den größten Einsatz für die
Stabilisierung der Regionen auf dem Balkan und in Afghanistan.
Teil unseres Engagements ist es, die Debatte über die
Wirksamkeit der Mittel des Antiterrorkampfes zu führen, statt sie zu
unterbinden. Die skeptischsten Beiträge in dieser Debatte kommen
heute von den Militärs: Man könne einen Krieg vielleicht in der ersten
Runde erfolgreich führen, auf die Frage einer Stabilisierung des Irak
nach Saddam - möglicherweise unter den Bedingungen eines
Partisanenkampfes - gibt es keine Antworten. Das Schlimmste wäre
es, mit einem Krieg den Zusammenschluss der islamistisch
gestimmten Massen und der arabisch-laizistischen Nationalisten
herzustellen. Eine solche Entwicklung könnte die gesamte Region in
ein hundertjähriges Chaos stürzen.
zeit: Die Risiken eines Krieges sind unübersehbar. Die Amerikaner
verweisen aber nicht ohne Grund auf das Risiko Saddam.
Vollmer: Saddam ist zurzeit der bestkontrollierte Diktator der Welt -
wenn das nicht reicht, wird der Krieg nie aufhören. Der Nahe Osten,
die Kaukasus-Region und Zentralasien aber sind inzwischen in einem
Maße destabilisiert, dass niemand mehr Garantien abgeben kann, wo
die Lunte zuerst angesteckt wird und das Pulverfass in die Luft geht.
Daraus ergibt sich für mich der kategorische Imperativ, stabilisierende
Konzepte zu entwerfen: Stärkung der UN, des Völkerrechtes, der
Legalität, des Aufbaus staatlicher Strukturen und Institutionen - das
alles hat Vorrang vor Kriegsfantasien.
zeit: Der Aufmarsch des Militärs in der Region deutet darauf hin, dass
der Krieg schon unvermeidlich geworden ist.
Vollmer: Man kann nur warnen vor einer Dynamik, in der die
Legitimation der eigenen Rolle mit der gelungenen Beseitigung des
Gegners zusammenfällt. In der Konfrontation von Bush und Saddam
ist es zu einer bedrohlichen psychologischen Engführung gekommen.
Aber darf sich die größte Macht der Welt an eine solche Konstellation
koppeln und dadurch ihre Entscheidungsfreiheit einschränken
lassen? Wenn es in der Wahl zwischen Krieg und Frieden keine
Freiheit mehr gibt, hat nicht nur die Diplomatie, sondern die Politik
insgesamt ihr Recht verloren.
© 2015 Dr. Antje
Vollmer